Kinderaugen
Wahrlich, nichts gleicht mehr dem Auge Gottes als das Auge des Kindes, das zum ersten Mal die Welt sieht und sie formt. Ein Chaos war vorher die Welt, alle Geschöpfe, Tiere, Bäume, Menschen, Steine flossen, ineinander verstrickt, vor dem Auge des Kindes vorbei - nein, nicht vorbei, sondern hinein - Konturen, Farben, Sterne, Düfte, Blitze, und das Kind vermochte sie nicht zu formen, sie nicht einzuordnen. Die Welt des Kindes ist nicht aus Lehm gemacht, auf dass sie standhalte, sie besteht aus Wolkenschaum, und ständig weht von den Schläfen des Kindes ein frischer Wind, und die Welt verdichtet sich, löst sich auf, verschwindet. Ähnlich muss vor der Schöpfung das Chaos am Auge Gottes vorbeigezogen sein.
(...)
Und eines Tages, während das Kind vor der Schwelle sitzt und verschwommen, dicht den Wasserfall der Welt in sich aufnimmt, sieht es plötzlich: Die fünf Sinne festigen sich, jeder schlägt seinen eigenen Weg ein, sie teilen untereinander das Reich der Welt.
(...)
In meinem zarten kindlichen Hirn verwandelte sich jedes Ding, wurde verzaubert, fern der Vernunft und sehr nahe dem Irrsinn. Irrsinn ist jedoch das Körnchen Salz, das die Vernunft nicht verfaulen lässt. Ich lebte, ich sprach und wandelte wie in einem Märchen, das ich jeden Augenblick weiterspann und in dem ich Wege fand, auf denen ich gehen konnte. Ich sah niemals ein und dasselbe Ding zweimal: Jedesmal gab ich ihm ein neues Gesicht; jeden Augenblick erneuerte sich mir die Jungfräulichkeit der Welt.
(...)
Ich preise Gott, dass in mir vielfarbig, vieltönend, frisch, diese kindliche Vision noch lebt. Das lässt meinen Geist nicht welken, nicht versiegen. Es ist der heilige Tropfen des Wassers der Unsterblichkeit, der mich nicht sterben lässt. Wenn ich schreibe, will ich vom Meer, von der Frau, von Gott sprechen, beuge ich mich über meine Brust und horche, was das Kind in mir spricht, es diktiert mir, und wenn es mir annähernd gelingt, mit Worten diesen großen Mächten - dem Meer, der Frau, Gott - näherzukommen und sie darzustellen, so verdanke ich es dem Kind, das noch in mir lebt. Ich werde wieder Kind, um mit jungfräulichen Augen die Welt immer wieder zum erstenmal zu erblicken.
Nikos Kazantzakis (1990), Rechenschaft vor El Greco
Frankfurt am Main / Berlin (Ullstein), S. 40ff
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Und eines Tages, während das Kind vor der Schwelle sitzt und verschwommen, dicht den Wasserfall der Welt in sich aufnimmt, sieht es plötzlich: Die fünf Sinne festigen sich, jeder schlägt seinen eigenen Weg ein, sie teilen untereinander das Reich der Welt.
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In meinem zarten kindlichen Hirn verwandelte sich jedes Ding, wurde verzaubert, fern der Vernunft und sehr nahe dem Irrsinn. Irrsinn ist jedoch das Körnchen Salz, das die Vernunft nicht verfaulen lässt. Ich lebte, ich sprach und wandelte wie in einem Märchen, das ich jeden Augenblick weiterspann und in dem ich Wege fand, auf denen ich gehen konnte. Ich sah niemals ein und dasselbe Ding zweimal: Jedesmal gab ich ihm ein neues Gesicht; jeden Augenblick erneuerte sich mir die Jungfräulichkeit der Welt.
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Ich preise Gott, dass in mir vielfarbig, vieltönend, frisch, diese kindliche Vision noch lebt. Das lässt meinen Geist nicht welken, nicht versiegen. Es ist der heilige Tropfen des Wassers der Unsterblichkeit, der mich nicht sterben lässt. Wenn ich schreibe, will ich vom Meer, von der Frau, von Gott sprechen, beuge ich mich über meine Brust und horche, was das Kind in mir spricht, es diktiert mir, und wenn es mir annähernd gelingt, mit Worten diesen großen Mächten - dem Meer, der Frau, Gott - näherzukommen und sie darzustellen, so verdanke ich es dem Kind, das noch in mir lebt. Ich werde wieder Kind, um mit jungfräulichen Augen die Welt immer wieder zum erstenmal zu erblicken.
Nikos Kazantzakis (1990), Rechenschaft vor El Greco
Frankfurt am Main / Berlin (Ullstein), S. 40ff
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zwitscherbirdie - 7. Feb, 22:51