Dienstag, 5. Oktober 2010

Zeitgeschichte lokal: ein Dorffriseur erzählt

Auf dem Weg zum Bioladen spricht mich Herr B. an, der vor seinem Haus Blätter zusammenkehrt. Einerseits wäre er froh, wenn er sich nicht um die Blätter kümmern müsste - immerhin hat einst nicht er, sondern die Stadt, mit seinem Einverständnis, den mittlerweile haushohen Baum auf seinem Hof gepflanzt - andererseits findet er, dass ihm das Fegen auch ganz gut tut.

Wenn er die jungen Leute heute so sehe... denen fehle doch etwas. Nicht unbedingt der Krieg, zu dem er im Jahr 1944, siebzehn Jahre alt, noch eingezogen wurde, soweit will er dann doch nicht gehen. Aber doch etwas Ordnung, Disziplin. Im späteren Verlauf des Gesprächs zeigt sich, dass er damit noch etwas anderes meint, als die abgedroschenen Worte hergeben: zugehörig sein oder auch das tun, was zu tun vor Augen, Händen und Füßen liegt, und daraus einen inneren Frieden beziehen.

Herr B. war der erste, der im Dorf einen Frisiersalon eröffnet hatte, der auch lange Zeit der erste Salon am Ort bleiben sollte, mit fünf Mitarbeiterinnen, davon zwei Auszubildende. Krank sein habe er nicht dürfen während seines Berufslebens. Nicht der vielen Arbeit wegen, sondern - ohne ihn hätten ja die Frauen alleine - also das sei ja eigentlich erst später so gewesen, mit den Belästigungen, also zu seiner Zeit habe man überall gearbeitet, auch er habe Damenfriseur gelernt in der Ausbildung, aber... Herr B. lässt den Satz dann doch unvollendet.

Als damals die Musterung gewesen sei, im Gebäude der Polizei der nahegelegenen Kreisstadt, da habe man sich nackt ausziehen müssen, dann sei geschaut worden, Muskeln, Bauch, Füße - und dann hieß es ab zur Infanterie. Kanonenfutter, so sei das doch gewesen, und deshalb sei er einen Stock höher gegangen, wo für Luftwaffe und Marine angeworben wurde, auch für die SS, die er mit dem im Nachbarort ansässigen KSK (Kommando Spezialkräfte) vergleicht, auch etwas Besonderes - aber es wird klar, ohne Worte, dass das trotz allem seine Sache nicht gewesen wäre - und habe sich freiwillig gemeldet, zur Marine. Schwimmen habe er können, denn sie seien in der Schule immer ins Bad - gemeint ist das Freibad im Dorf, erbaut 1933 - im Sportunterricht, eine Stunde lang.

Dann seien alle erst einmal zwei Wochen lang untersucht worden. Herr B. wurde im Ergebnis für "u-boot-untauglich" befunden. Darüber sei er letztendlich froh gewesen, die hätten damals doch alles genommen, hätten ja niemand mehr gehabt, nachdem die ganze Flotte schon abgesoffen gewesen sei.

Herr B. gerät schließlich auch nach Dänemark, in neutrales Gebiet, "da konnte man Mädchen ins Café einladen und Kuchen essen - und in Deutschland haben sie gehungert". Obwohl, hier im Dorf eher nicht, da gab es Landwirtschaft, auch viele kleine Landwirte - Herr B. zeigt über die Straße, wo der Kuhstall gewesen sei, mit zwei Kühen, die meisten hätten ja damals schon Pferde gehabt, er sei es gewohnt gewesen von Anfang an, zu arbeiten, den Mist habe man noch mit den Händen aufgeladen - das Grundlegende, Milch, Eier, Brot, das habe man gehabt hier.

Und damals seien "sie" (die Alliierten) ja schon auf Berlin marschiert, vier Schulkameraden sind damals gefallen, einer, ebenfalls 83 Jahre alt, war vier Jahre in Gefangenschaft in Frankreich und liegt heute, an seinem Geburtstag, im Krankenhaus, Schlaganfall, und früher sei dieser eigentlich nie krank gewesen. Er ja auch nicht... wieder bleibt etwas unausgesprochen in der Luft hängen.

Herr B. hat Glück, er muss nicht an die Front, sondern zum Arbeitsdienst. In Krems, in der Nähe von Wien, also in Österreich - aber Österreich, das war ja auch deutsch - am Eingang der Wachau, an der Donau, da habe ein Flieger ein paar Bomben verloren, und da haben sie den Schutt räumen müssen, die guten Steine hierhin, die schlechten dort.

Am Sonntag hatten sie Ausgang. Aber alleine durften sie nicht das Lager verlassen, denn sie hatten keine Ausgangs-Uniform dabei, nur zweite Garnitur, und ein deutscher Soldat, auch ein Arbeitssoldat, der habe immer ordentlich aussehen müssen.

Samstags seien Frauen gekommen, die ebenfalls Schutt wegräumen mussten, und die hätten sie gefragt, ob sie nicht auch ausgehen dürften, denn sie wären gerne mit ihnen ausgegangen, aber sie durften ja nicht.

In Begleitung eines Österreichers durften sie dann Wien anschauen, die Sehenswürdigkeiten: Theater, Prater und Riesenrad, Schloss und noch vieles mehr, und es sei ihnen alles genau erklärt worden. Über Herrn B.s Gesicht liegt ein stilles Leuchten.

Er habe als Friseur auch immer Zugang gehabt zu..., wo die anderen nicht so... - da hieß es dann: B., packen Sie Ihre Sachen zusammen und fahren Sie zu meiner Familie, Haare schneiden - da sei dann anschließend auch Ausgang gewesen. Oder beim Exerzieren, da habe es auch geheißen: B., nehmen Sie einen Hocker, und dann habe er da Haare geschnitten, einem nach dem anderen. Ach, das Exerzieren, lächelt Herr B. stillvergnügt in sich hinein, also nach Jungvolk und Hitlerjugend und Arbeitsdienst, das hätten sie doch alles schon gekonnt, das sei nicht nötig gewesen, aber... abermals ein nicht zuende gesprochener Satz.

Untergebracht waren sie in einem Barackenlager, in der Nähe der Donau. Da seien sie dann abends schwimmen gegangen, nackt, es waren nur etwa zweihundert Meter bis zum Fluss, da gingen sie hin, ohne Badehose.

Er habe es gut gehabt, habe nicht zum Einsatz müssen. Für ihn war das ein Abenteuer. Es war ganz offensichtlich das nachdrücklichste in seinem Leben.
plog - 6. Okt, 16:00

Über was

werden wohl die heute 17jährigen in 66 Jahren den Nachgeborenen berichten?

zaungast

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Wo noch? ;)
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zwitscherbirdie - 18. Sep, 20:26
Ballermann goes everywhere
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plog - 17. Sep, 18:16
"Das geht ab!"
30. August 2013 gegen 20:45 Uhr, rheinaufwärts...
zwitscherbirdie - 6. Sep, 19:31
Pachtey! :D
Ballermann goes Rhein (Ton: *klickaufsbild*) 31.08.2 013...
zwitscherbirdie - 6. Sep, 19:24
Stop 'n' Go
auf dem Rhein (Köln, Nähe Zollhafen) 31.08.2013.. .
zwitscherbirdie - 6. Sep, 12:54

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